Wes Andersons „Asteroid City“: Höhepunkt oder Ende eines großen Künstlers? - WELT (2024)

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Nach dem Türkis und Schwarzweiß seines letzten Films „The French Dispatch“ ist Wes Anderson wieder in seiner gelben Periode angekommen. „Asteroid City“ spielt in der Wüste des amerikanischen Südwestens und versammelt so ungefähr sämtliche Stars, die Hollywood derzeit aufzubieten hat: Scarlett Johansson, Jason Schwartzman, Edward Norton, Adrien Brody, Bryan Cranston, Tom Hanks, Steve Carell, Rupert Friend, Willem Dafoe, Matt Dillon, Margot Robbie, Jarvis co*cker, Jeffrey Wright, Liev Schreiber und Jeff Goldblum, um nur einige zu nennen. Damit das finanzierbar bleibt, spielen sie nicht zu ihren üblichen Konditionen, die im Fall von Johansson bis zu 20 Millionen Dollar pro Film betragen. Stattdessen arbeiten sie quasi zum Selbstkostenpreis, 4000 Dollar die Woche, was dem Mindestlohn der amerikanischen Schauspielergewerkschaft entspricht.

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Warum machen sie das? Offenbar lieben sie es, auf den Geburtstagspartys herumzuturnen, die Andersons Filme insgeheim eigentlich sind. In schönen Bildern passiert gleichzeitig viel und überhaupt nichts. Junge Genies treffen sich in the middle of nowhere, um ein seltenes Himmelsphänomen zu beobachten und ihre sagenhaften Erfindungen vorzustellen. Dann kommt es allerdings zu einem unerhörten Ereignis, das alle in die Quarantäne zwingt. Das Ganze ist, wie üblich bei Anderson, nicht jedermanns Sache. Ein Streitgespräch nach der Premiere in Cannes, wo „Asteroid City“ im Wettbewerb läuft.

Wes Andersons „Asteroid City“: Höhepunkt oder Ende eines großen Künstlers? - WELT (1)

Jan Küveler: Ich habe den schönsten Film des Jahres gesehen. Ein zauberhaftes Puppenhaus, in dem die wesentlichen Mythen der amerikanischen Popkultur zu ihrer besten und optimistischsten Zeit, den Fünfzigerjahren, herzallerliebst zusammengestellt werden. Du merkst schon: „herzallerliebst“, „zauberhaft“ – der Film schämt sich nicht für seine Exzentrik, den überbordenden Barock, den Verzicht auf jede Aggression. Es ist eine Utopie in Pastell, die Ahnung, wie die Welt sein könnte, wenn sie nur so schön, intelligent, nerdig und stilvoll wäre, wie sie Wes Anderson sich erträumt. Ich würde in „Asteroid City“ sofort einziehen und drei Wochen bleiben, fast wie die Figuren, die wegen einer Begegnung der dritten Art in eine Quarantäne gezwungen werden und notgedrungen miteinander klarkommen müssen – der autistische Vater, ein Kriegsfotograf, mit seinen vier Kindern oder Tilda Swinton als Astronomin mit verdrängtem Kinderwunsch.

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Marie-Luise Goldmann: Und ich habe noch nicht mal die zwei Stunden Quarantäne ausgehalten, die ich im Kino verbringen musste. Wie auch schon bei seinen letzten Filmen kommt er über eine originelle Ästhetik, die ich durchaus zu schätzen weiß, nicht hinaus. Man kann es nerdig nennen oder aber arrogant, wenn ein Film vollständig auf Handlung, Charakterentwicklung, Spannung und Sinn verzichtet. Und diese ganzen Brechtschen Verfremdungseffekte, wenn Schauspieler sich in der falschen Szene befinden oder eigentlich aus dem Film herausgeschnitten wurden – es ist Jahrzehnte her, als man das noch witzig fand. Genauso wie die obsessive Selbstreflexion, das nervige Aufmachen ständig neuer Ebenen. Was sollte etwa die Schwarz-Weiß-Rahmung durch das Theater?

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Jan Küveler: Ich fand keinen Film emotional reicher als diesen. Unter der charmanten Oberfläche und den verspielten, bis ins letzte Detail ausgestalteten Bildern liegt eine tiefe Trauer, für mich das große Thema von „Asteroid City“: der Verlust geliebter Menschen und der Versuch, in einem sinnlosen Universum mit der eigenen Sterblichkeit klarzukommen. Die ganzen Rahmungen – wir sehen einen Film in einem Theaterstück, das wiederum verfilmt wird – kann ich auch noch nicht ganz auflösen. Wie meistens bei Anderson muss ich ihn mir dafür mehrmals anschauen. Aber wenn in der Wüste plötzlich eine Tür aufgeht und eine Figur hindurchtritt, um in einer Schwarzweiß-Theaterkulisse wieder aufzutauchen, erscheint mir das angesichts ebendieses Themas des Verschwindens in der Unendlichkeit schlüssig. Ganz abgesehen davon, dass auf der anderen Seite ein rastloser Adrien Brody und eine elegante Margot Robbie warten.

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Marie-Luise Goldmann: Die Themen Trauer und Verlust werden allerdings nur über den Umweg der künstlerischen Nabelschau verhandelt. Eigentlich geht es um Schauspieler, Filmemacher, Fotografen, Theaterregisseure und ihre Befindlichkeiten. Dass dann zwischendurch mal ein interessanter Gag über die Asche der Mutter in einer Tupperdose auftaucht, macht den Film noch nicht zu einer berührenden Erfahrung. Hier bleibt alles Oberfläche. Es ist Kunst für Künstler, nicht für alle. Einen Wes-Anderson-Film zu schauen ist für mich wie eine Unterrichtsstunde bei der Lehrerin in „Asteroid City“ zu nehmen. Die Schüler wollen alle über das Alien sprechen, das an diesem Tag gelandet ist, aber die Lehrerin hat auf die Schnelle keinen neuen Unterrichtsplan vorbereiten können und erklärt stattdessen den Planeten Neptun. Ich will aber lieber etwas über Aliens erfahren!

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Jan Küveler: Im Gegenteil! Da geht ein ganzes Universum auf, ein Amerika im Kleinen, in seinen wesentlichen Mythen – dem Diner, der Wüste, den Atomtests, Hollywood, der Raumfahrt und so weiter; sogar der Roadrunner der „Looney Tunes“ ist Dauergast, Miep-Miep. Und diesem Universum im Großen entsprechen Dutzende Universen im Kleinen, gespiegelt in jeder Figur, die die Welt mit jeweils eigenen Augen sieht. Da sind die Anderson-typischen hochbegabten Kinder, die traurigen Eltern und natürlich Künstler aller Couleur. Wenn also Nabelschau, dann nicht nur die eine, absolute, eines egozentrischen Macho-Regisseurs, sondern ganz viele parallele, in Form der zartesten Polyphonie.

Marie-Luise Goldmann: Ein von seiner gewaltvollen Geschichte bereinigtes Amerika. Zugegeben, es gab ein paar geniale Szenen. Scarlett Johannson war noch nie so großartig. Sogar mit Nacktszene! Und die ist so intelligent eingeführt, gerahmt und gebrochen, da dachte ich kurz: Jetzt nimmt der Film Fahrt auf. Aber dann wurde ich wieder mit allen möglichen, unzusammenhängenden Fetzen beworfen, die jeder für sich vielleicht interessant sind, aber zusammengenommen keine Geschichte ergeben. Der Film taugt mehr als Kunstinstallation denn als unterhaltsamer, bewegender oder aufrüttelnder Kinofilm.

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Jan Küveler: Und selbst, wenn es so wäre: Was ist so schlecht an einer filmischen Installation, die in jeder Einstellung so verlockend und reichhaltig ist, dass man sich ewig darin verlieren könnte? Ich glaube, Anderson empfindet das plotgetriebene Geschichtenerzählen als zu einfach und kitschig. Er ist ein Nostalgiker der Postmoderne, ein Kind von Pynchon und Coca-Cola. Er entwirft – wie gesagt – eine Utopie. Deshalb ist das Fehlen der gewaltvollen Geschichte auch keine Klitterung, sondern die sanfte Mahnung, wie viel schöner alles sein könnte.

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Marie-Luise Goldmann: Ich habe den Film mit demselben Befremden gesehen wie das Alien die Erde.

Jan Küveler: Ich glaube, das Alien ist von dieser Erde sehr angetan; immerhin kommt es zurück. Das mache ich mit „Asteroid City“ auf jeden Fall auch.

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